DE. Die globale Kulturgeschichte ist Jahrhunderte lang weiß. Nach dem Motto „Die Siegenden sagen die Wahrheit“, werden Kriegsverbrechen relativiert und unterdrückende Systeme billigend in Kauf genommen – somit ein „wir“ geformt, welches die Norm meint und Blindstellen einer vielstimmigen Gegenwart hinterlässt. Erst seit dem Ende des 20. Jahrhunderts scheint endlich eine Beschäftigung mit dieser Unvollständigkeit vonstatten zu gehen, was sich auch auf die Kunst auswirkt. Es gibt ganze wissenschaftliche Zweige, die sich mit den Gräueltaten von Raubkunst beschäftigen und auch die zeitgenössische Kunst wird diverser, offener, zeigt sich loud und proud. Doch es bleibt ein Anfang, dem viele weitere Jahrzehnte der Aufarbeitung folgen müssen.
Die Festivalreihe VOLUME UP – zunächst Unacknowledged Histories – setzt sich mit jenen auseinander, die vom „Narrativ der Nation“ ausgeschlossen sind. Im Antragstext zum Vorhaben an die Kunststiftung NRW wird dabei auf den Begriff des „Epistemizid“ nach Ramón Grosfoguel verwiesen, welcher die systematische Zerstörung von Wissen umfasst.
Ein Deutscher „entdeckt“ eine Blume in Tansania – bis heute trägt sie in der international gültigen botanischen Nomenklatur seinen Namen. War die Pflanze vor 1891 unbekannt? Sicher hatten auch die Bewohner Tansanias einen Namen für sie. Aber wir finden ihn nicht in den Botanik-Lehrbüchern. Wir wissen vieles nicht über die Herkunft unseres Wissens. Oder wollen es nicht wissen. Dass große Teile davon auf Gewalt beruhen etwa. Darauf, dass Menschen ausgebeutet – und deren Wissen angeeignet wurde. Weil sie als nicht viel mehr galten als eine Ressource. Eine unterlegene „Rasse”.
Azadê Peşmen und Lydia Heller, Weiße Flecken auf wissenschaftlicher Landkarte

Die Initiator:innen , tanzhaus-Dramaturgin Anaïs Emilia Rödel (†) und Künstlerin Ligia Lewis, wollen mehr als eine Perspektive auf das Thema Kolonialismus zu werfen, mehr als eine Sicht auf die Wirklichkeit zeigen. Denn gerade durch die selektierte Wahrheit, diesen Epistemizid von Wissen, klaffen bei Betroffenen die Wunden und Traumata immer wieder auf, kann durch Nicht-Verhandlung mehr Schaden bewirkt werden, als wenn offen und reflexiv damit umgegangen werden würde. Die letztjährliche Ausgabe warf einen kritischen Blick auf die Vergangenheit, in diesem Jahr stehen mehr zeitgenössische Themen im Fokus. Philipp Schaus, der Auszüge aus dem Antragstext vorliest, erklärt, dass die Veranstaltungsreihe im dreijährigen Zyklus gedacht war, dies durch den Intendantinnenwechsel aber nicht mehr abgeschlossen wird. Umso mehr Power und Komplexität hat das diesjährige Festival, sagt er. Denn es ist Zeit, Publikum mehr zuzutrauen, es mehr mit der Realität zu konfrontieren und unangenehme Begegnungen zu schaffen. Auch deswegen hat Olivia Hyunsin Kim die zweite Ausgabe des Festivals kuratiert.
Ich war sauer, denn ich hatte das Gefühl, die Generationen vor mir, vor uns hatten uns im Stich gelassen und im Falle von asiatisch-deutschen Menschen das Stereotyp der stummen, gefügigen Asiat*innen erfüllt. Ich steckte in einem Dilemma, da Postkolonialismus als Festivaltrend mehr und mehr Anklang fand. Einerseits kämpfte ich für mehr Repräsentation von marginalisierten Gruppen in den Darstellenden Künsten. Andererseits wollte ich nicht die einzige Repräsentantin, der feel-good-Token für eine weiße, able-bodied Mehrheitsgesellschaft sein.
Olivia Hyunsin Kim, TO ALL THE UNNIS I HAVE LOVED BEFORE

In ihrem Text zum Festival, TO ALL THE UNNIS I HAVE LOVED (BEFORE), berichtet Olivia Hyunsin Kim von Postkolonialismus, der gefühlten Machtlosigkeit und der Erkenntnis, dass die Generationen vor ihr sehr wohl aufbegehrt hatten gegen ein ungerechtes System, jedoch in der Geschichte kaum etwas davon zu lesen ist. Als Beispiel nennt sie das Aufbegehren koreanischer Krankenschwestern in Münster in den 1970er Jahren gegen eine geplante Zwangsabreise – ein wichtiger Schritt hinzu mehr Rechten für Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland. Als Auftakt zum gemeinsamen Gespräch betonte sie außerdem, dass BpoC-Personen und Crippled-Artists in ihren Augen meist ins Rahmenprogramm von Kulturfestivals verbannt werden, nicht zur „Haupt“Kunst gehören. Bei Paneldiskussionen, so berichtet Kim, werden zum Teil immer dieselben Positionen eingeladen, um repräsentativ für ihre Bevölkerungsgruppe zu sprechen.
Im gemeinsamen Gespräch mit den anwesenden Kompliz:innen und Gäst:innen wurden die Kurzimpulse diskutiert und weitergesponnen. So wurde beispielsweise auch die Frage gestellt: Wann deklariert man etwas als Neben-, wann als Hauptprogramm? Wie erreicht man, das nicht „immer dieselben“ sprechen? Wie erreicht man Menschen außerhalb der Szene und erhöht somit auch die Nachfrage nach einem solchen komplexen Angebot, welches konfrontiert, erschüttert und unkomfortabel ist? Die Anwesenden hinterfragten auch ihr eigenes Handeln und vorhandene Arbeitsweisen, tauschten sich über konkrete Probleme aus und fühlten sich auch mancherorts ertappt in angelernten Verhaltensweisen.
MORE IS MORE dankt Olivia Hyunsin Kim und Philipp Schaus für ihre Zeit und den tollen Auftakt zur Veranstaltungsreihe.
EN. WHO IS NOT IN THE ROOM? The first session of MORE IS MORE on June 1, 2022 dealt with white spots in the independent scene of Düsseldorf, NRW and the international festival culture in dance, performance and theater in an exchange with the initiators Olivia Hyunsin Kim and Philipp Schaus. The occasion was the upcoming second edition of the festival VOLUME UP – Unheard Stories, Unnoticed Knowledge at tanzhaus nrw.
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Projektdokumentation: Lena Busse.
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